Das Ziel ist eine Stadt, die für alle da ist …

Was bedeutet es für unser Leben, dass wir heute in Wohnungen leben, die wenig mit unseren Bedürfnissen als Stadtbewohner zu tun haben? Es fehlt zunehmend an bezahlbarem Wohnraum – welche Lösungsansätze verfolgen unsere Europäischen Nachbarn? Sind genossenschaftliche Modelle eine Antwort? Diese Fragen haben Thomas Stellmach und Robert Ostmann von urban coop berlin in einem Artikel für das Magazin der Berliner Wirtschaftsgespräche untersucht. 

Wie Menschen denken und leben, so bauen und wohnen sie. Johann Gottfried von Herder (1744–1803)

Das Zitat von Herder lässt sich ebenso rückwärts lesen: Was bedeutet es für unser Leben, dass wir in Wohnungen leben, die wenig mit unseren Bedürfnissen als Stadtbewohner zu tun haben?

Wenn Typologien das Entstehen von Gemeinschaft und Erwerbsmöglichkeiten erschweren, wenn soziale und ökonomische Gegebenheiten unberücksichtigt bleiben, kann aus einem „zukunftsweisenden Projekt der Stadterneuerung” schnell eine Ruine werden. Als prominentes Beispiel bietet sich das Pruitt-Igoe-Wohngebiet in St. Louis an, das 1972 – nur 17 Jahre nach Fertigstellung – abgerissen wurde nachdem mehrere Sanierungsversuche scheiterten.

“Die heute dominierenden Wohnmodelle sind die, die sich am besten rentieren”, legt Niklas Maak in seinem Buch “Wohnkomplex” dar. Laut Maak ist das Bild der isolierten Kleinfamilie eine soziologisch und bauhistorisch relativ junge Wohnform, die angesichts des ökologischen, ökonomischen und demografischen Wandels an ihrem Ende angelangt sei. Tatsächlich widersprechen demographische Daten dem “Eine Wohneinheit – eine Familie” Konzept. Der Anteil der kleinen Haushalte mit ein oder zwei Personen wird auf 81 % im Jahr 2030 ansteigen. In Berlin stellen Singlehaushalte mit 58 % schon heute die Mehrheit.

Die Situation lässt sich in einem Satz zusammenfassen – es fehlt zunehmend an bezahlbarem Wohnraum. Dabei trifft steigende Nachfrage auf verfehlte Wohnungsbaupolitik und Marktversagen. Zahlreiche deutsche Städte, unter ihnen Berlin, haben in den vergangenen Jahren ihren Sozialwohnungsbestand privatisiert, Grundstücke meistbietend verkauft und so die Preisspirale selbst befeuert. Das Ergebnis: Laut einer Studie des Sozialwissenschaftlers Andrej Holm fehlt es in Berlin an 125.000 bezahlbaren und 110.000 altersgerechten Wohnungen.

Dass der Markt diese nicht anbietet liegt daran, dass es eine solventere Zielgruppe gibt: Investoren aus aller Welt, die sichere Anlagemöglichkeiten für ihr Kapital suchen. Die marktlogische Konsequenz – es werden vor allem konventionelle, hochpreisige Wohntypologien gebaut – auch wenn die Nachfrage der Wohnungssuchenden vor Ort in die gegensätzliche Richtung geht. Eine aktuelle Studie des ARD-Magazins Panorama zeigt, dass die dabei erstellten Mietwohnungen für die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung (97 % in Berlin) nicht bezahlbar sind. Besserung ist nicht in Sicht, steigen doch die Wohnungspreise schneller als die Einkommen, wie kürzlich eine Studie der Postbank zeigte.

Bundesbauministerin Barbara Hendriks schlägt zur Lösung des Problems vor, dass sich Investoren mit weniger Rendite zufrieden geben mögen. Warum sie dies tun sollten, bleibt unklar. Der Berliner Senat setzt vor allem auf Quantität, will Baugenehmigungen beschleunigen und Baustandards senken. Es ist richtig, dass Bauen in Deutschland überreguliert ist. Andererseits fällt es nicht schwer sich vorzustellen, wie Deregulation Errungenschaften im Klimaschutz und der Bürgerbeteiligung auszuhebeln vermag. Es gibt ausreichend Anschauungsbeispiele im Osten wie im Westen Deutschlands, was für weitreichende Auswirkungen die falschen Entscheidungen haben können.

Vielleicht sollte man einen Blick zu unseren Nachbarn in Holland, Schweiz und Österreich werfen, welche Antworten auf die Wohnungsfrage dort gegeben werden.

In Holland finden wir sozialen Wohnungsbau, der zugleich räumlich und architektonisch attraktiv ist. Wie geht das? Durch Standardisierung und Serialisierung, durch Modularität und Flexibilität bei der Bautypologie, ohne auf die Qualität zu verzichten. So bauten Kempe-Thill (Deutsche Architekten mit Sitz in Rotterdam) kürzlich in Den Haag Sozialwohnungen mit einem Baupreis von 1.100 Euro pro m². Hinzu kommt, dass man in den Niederlanden auch auf kleinerer Fläche gut lebt: Die durchschnittliche Wohnungsgröße liegt bei 75 m². In Deutschland sind es 122 m². Das sind 62 % mehr. Das war nicht immer so: “Wohnte ein Deutscher 1972 durchschnittlich auf weniger als 30 Quadratmetern, sind es heute 45 Quadratmeter” sagt Architekt Joachim Schultz-Granberg im Tagesspiegel. Durch diesen Anstieg in der Wohnfläche werden auch Energiesparmaßnahmen konterkariert.

Einen umgekehrten Weg gehen Lacaton & Vassal in Frankreich. In Mulhouse realisierten sie günstigen Wohnraum durch weitgehenden Verzicht auf Trennwände und Ausbau. Das ist keine schlüsselfertige Zweiraumwohnung, erlaubt aber einen Zuwachs an Möglichkeiten zur individuellen Gestaltung: eine Ästhetik des Industriellen und Unfertigen, mit der sich sicherlich auch manche Berliner identifizieren könnten.

In der Schweiz finden wir nachhaltige Finanzierungsmodelle vor: Für das Kalkbreite-Areal in Zürich gewährte die Stadt der Genossenschaft zinslose Darlehen und beteiligte sich am Genossenschaftskapital, was sowohl Eigenkapitalanforderungen sowie Miete für die Bewohner reduzierte. Die Form der gemeinnützigen Trägerschaft bedeutet auch, dass solche Projekte dem spekulativen Wohnungsmarkt entzogen sind. Öffentliche Förderung ermöglicht viel beachtete Projekte innovativen Wohnungsbaus in der Schweiz.

In Wien finden wir, dass das Schaffen von Wohnraum auch unmittelbar als Aufgabe der öffentlichen Hand begriffen wird. Die Stadt kauft potenzielles Bauland auf, schafft Baurecht, und verkauft günstig weiter an oft gemeinnützige Bauträger. Der Gewinn wird in neues Bauland investiert. Das hält die Preise im Rahmen und erlaubt günstiges Wohneigentum. Der Profit und die Entwicklungsteuerung liegen in der öffentlichen (demokratisch legitimierten) Hand, statt Partikularinteressen privater Unternehmen zu folgen. Die Fördermittelausgaben Wiens für Wohnungsbau sind dennoch signifikant höher als die Berlins. Allerdings spart dies die Stadt an anderer Stelle – bei der Mietbeihilfe für einkommensschwache Haushalte – wieder ein. Das Prinzip, das im angelsächsischen Raum land banking genannt wird, erlaubt in Wien sozialen Wohnungsbau bei vollen Kassen: weit entfernt von Berliner Politik.

Es wäre zu überprüfen, welche dieser Ansätze in Berlin funktionieren. Hinzu kommt, dass neue Wohnformen nicht nur auf den demografischen Wandel reagieren, sondern darüber hinaus positive Effekte haben: Das Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung in Mannheim findet, dass Typologien die Nachbarschaftlichkeit ermutigen, gerade für ältere Bewohner vorteilhaft sind: sie führen ein aktiveres Leben und bewerten ihre Lebensbedingungen positiver. Darüber hinaus sind sie kostengünstiger: “Da die Kosteneinsparungen derzeit im Wesentlichen den Bewohnern und den Sozialversicherungen zugute kommen, erscheint eine Kompensierung der Mehraufwendungen auf der Trägerebene angezeigt.”

Die Autoren versuchen, einige dieser Ideen in Berlin zu etablieren. Mit der Gründung der urban coop berlin eg verfolgen sie das Ziel, preisgünstigen Wohnraum bei hoher Qualität zu schaffen. Sie haben sich entschieden, die Genossenschaft als Eigentumsform zu befördern, da sie die beste Methode ist, nachhaltig zu gewährleisten, dass Wohnraum langfristig bezahlbar bleibt. Darüber hinaus bietet sie als gemeinschaftliche Eigentumsform den idealen Rahmen für neue Wohnformen. Sie nehmen die gesellschaftlichen und demographischen Veränderungen zum Anlass, gängige Wohnungstypologien besser an neue Lebensmodelle und Bewohnerbedürfnisse anzupassen. Vor allem die großzügigen Gemeinschaftsräume und – flächen unterscheiden die gemeinschaftlichen Vorhaben vom konventionellen Wohnungsbau. Das Ziel ist eine Stadt, die für alle da ist – nicht nur als Konsument, sondern als aktives Mitglied der Gesellschaft.

Quelle: Themenbroschüre (2017): Berlins Bau- und Immobilienwirtschaft,
(pdf, 8 MB)